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Genly Ai, ein Mann von der Erde, besucht als Gesandter eines Weltenbundes den arktischen Planeten Gethen. Auch hier leben Menschen, doch gerade weil ihm die Einwohner oft so vertraut scheinen, kommt Genly nicht mit ihnen zurecht. Nicht nur dass er ständig friert, dass er mit Königen und Aristokraten umgehen muss (auf der Erde gibt es beides nicht mehr) und in politische Intrigen gerät, die er nicht durchschaut; viel mehr macht ihm zu schaffen, dass die Gethenianer den größten Teil der Zeit kein Geschlecht haben. Nur alle paar Wochen werden sie für wenige Tage zu Männern und Frauen – und niemand ist auf ein Geschlecht festgelegt – lieben sich, zeugen Kinder oder werden schwanger; dann ist die Phase vorbei, und sie sind erneut … Ja, was sind sie? "Denn es war unmöglich, in ihm […] eine Frau zu sehen, und dennoch spürte ich, sobald ich in ihm einen Mann zu sehen versuchte, etwas Unechtes, einen Betrug: in ihm, oder in meiner eigenen Einstellung zu ihm?" Genlys fundamentalstes Bezugssystem ist unbrauchbar geworden. Ständig meint er in seinem Gegenüber dieses Unechte zu spüren. So erkennt er nicht, wem er trauen darf, vertraut am Ende den Falschen und gerät in Lebensgefahr; und erst bei der abenteuerlichen Flucht aus einem Internierungslager und über das große Inlandeis lernt er, in seinem Retter Estraven einfach einen Menschen zu sehen. Die linke Hand der Dunkelheit, Ursula Le Guins mehrfach preisgekrönter Roman aus dem Jahr 1969, handelt damit nicht nur von Geschlechterrollen, sondern erzählt viel allgemeiner von der Begegnung mit dem Fremden: spannend, farbenfroh, mysteriös und verblüffend aktuell.

Ich habe Ursula Le Guin mit Mitte zwanzig entdeckt, als ich schon einiges an Science fiction gelesen hatte, von Autoren, die damals als Klassiker galten: Asimov, Niven, Heinlein. Die misogynen Untertöne dieser Romane fand ich ärgerlich; andererseits war das eine Zeit, in der auch Biologieprofessoren unwidersprochen frauenfeindliche Ansichten äußern durften und die einzige Mathematikprofessorin der Uni in ihren Vorlesungen gemobbt wurde. Frau war so etwas also gewöhnt.

Dass die unterschwellige (oder auch offene) Gehässigkeit gegen Frauen bei Le Guin fehlte, empfand ich natürlich als wohltuend, aber es war nicht der Grund, weshalb mich ihre Romane verzaubert haben. Zumal auch bei ihr die Rolle des Handlungsträgers fast immer männlich besetzt war; das hat sich erst in späteren Jahren geändert. Aber verglichen mit Asimov oder Niven hatte ich bei ihr das Gefühl, die Sphäre der technoiden, eindimensionalen Abenteuer zu verlassen und mich endlich durch wirklich lebendige Welten zu bewegen.

Im Laufe der Jahre habe ich fast alle ihre Romane gelesen. Auf meiner persönlichen Bestenliste steht gleich hinter The Left Hand of Darkness der Roman, der allgemein als ihr bester gilt: The Dispossessed, mit kleinem Abstand gefolgt von The Lathe of Heaven.

Ursula K. LeGuin: Die linke Hand der Dunkelheit
Übersetzt von Gisela Stege
Heyne Verlag
ISBN 9783453315945

Original: The Left Hand of Darkness Penguin ISBN 9780441478125